Mit dem Bagger geht es in Schüttorf zurück zur Natur
- Sep 2021
Wer in diesen Tagen auf der Vechtebrücke der Salzberger Straße in Schüttorf steht und gen Süden schaut, wird eines beeindruckenden Anblicks gewahr: Das komplette Flussbett ist trockengelegt, die frühere Wehranlage mit ihren zwei Stauklappen und dem mittigen Häuschen ist gänzlich verschwunden, schweres Gerät ist seit Wochen im Dauereinsatz. Der Grund: Die 1973 errichtete Staustufe wird durch eine Sohlgleite – genauer gesagt durch einen Beckenfischpass in Riegelbauweise – ersetzt. Künftig werden die 2,40 Meter Höhenunterschied also nicht mehr über den künstlichen Wasserfall, sondern über 30 Sandsteinriegel mit jeweils acht Zentimetern Höhenversatz auf einer Länge von rund 300 Metern überwunden. Damit soll die Durchgängigkeit der Vechte an dieser Stelle wiederhergestellt werden, sodass Fische und andere Wasserlebewesen ungehindert wandern können.
Das Projekt reiht sich ein in eine Serie an Maßnahmen, die der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) in der Grafschaft verwirklicht, um einen „guten ökologischen Zustand“ der Fließgewässer herzustellen.
Vor Ort in Schüttorf hat Bauleiter Heinz Lühn von der Ingenieurgesellschaft Rücken & Partner alles unter Kontrolle. Lühn kann auf einen breiten Erfahrungsschatz zurückgreifen: Von 1983 bis 2010 ist er bei verschiedenen Bauunternehmungen regional und überregional als Bauleiter tätig gewesen, im Gewässerbau, Erdbau, Kanalbau, Industrieanlagenbau, Kläranlagen- und Rohrleitungsbau auf verschiedensten Baustellen zwischen Bremen und Frankfurt und von Luxemburg bis Berlin. Seit 2011 ist er bei Rücken & Partner mit der Ausschreibung, Vergabe und Bauleitung für die Auftraggeber – in diesem Fall für den NLWKN – tätig. Der Bauexperte wartet mit imposanten Zahlen auf: Ganze 200 Kubikmeter Beton wurden bei der Entfernung des alten Wehres abgebrochen, ein 80 Tonnen schwerer Bagger fräste die massive Konstruktion nach und nach ab.
Inzwischen sind bereits mehrere der rund 20 Meter breiten Riegel angelegt. Sie bestehen aus Sandsteinblöcken, die zwischen 800 Kilogramm und zwei Tonnen wiegen einzeln eingesetzt werden. Hier ist das Können von Baggerfahrer Christian Lübber gefragt. Er ist tätig für die ausführende Baufirma Mittelweser, die bereits die Sohlgleite am Dinkelwehr War bei Lage realisierte.
Die Verantwortlichen: Rebecca Swoboda und Josef Schwanken (rechts) vom NLWKN sowie Bauleiter Heinz Lühn.
Jeder der Riegel weist eine Lücke auf, durch welche das Wasser bei niedrigen Pegelständen fließen kann. Die Lücken sind versetzt angeordnet, um eine dynamische Strömung zu bewirken. An mindestens 300 Tagen im Jahr muss die Durchgängigkeit des Wasserbauwerks gegeben sein, so die Maßgabe. Da die Sandsteinblöcke natürliche Formen aufweisen und die Riegel dennoch dicht zu sein müssen, gilt es, das darunterliegende Flussbett entsprechend anzupassen. 13.000 Tonnen Schotter wurden dazu bislang schon verbaut.
Um die Arbeiten ausführen zu können, musste das Flussbett trockengelegt werden. Dazu wurden in den beiden Vechtearmen, die am oberen Ende der Baustelle zusammenführen, zwei temporäre Dämme errichtet. Ein Teil des Wassers fließt nun durch zwei 300 Meter lange Rohre hinab, der andere Teil wird über die Alte Vechte und den Schüttorfer Mühlenkolk abgeleitet. Vor Beginn der Arbeiten engagierten sich Mitte Juni zahlreiche Mitglieder des Sportfischereivereins Schüttorf und retteten die Wassertiere aus dem Baustellenbereich. Tausende Muscheln und Fische holten sie – unter anderem durch Elektro-Betäubung – aus dem Wasser und setzten sie andernorts wieder in die Vechte.
Wie sich das Wanderverhalten der Fische in der Vechte genau gestaltet, untersucht aktuell das grenzüberschreitende Projekt „Swimway Vecht“, welches verschiedene Fischarten mit Sendern ausgestattet hat. Durch entsprechende Empfangsgeräte an Wehranlagen sollen die Routen nachgezeichnet und die Durchgängigkeit von Wasserbauwerken evaluiert werden. Für den kommenden Dienstag ist ein Treffen der Beteiligten in Schüttorf geplant.
Eindrucksvoller Anblick: Vom Vechtewehr ist nichts mehr zu erkennen, die Großbaustelle ist in vollem Gange. Eindrucksvoller Anblick: Vom Vechtewehr ist nichts mehr zu erkennen, die Großbaustelle ist in vollem Gange. Begleitet wird der Bau der Sohlgleite von verschiedenen Renaturierungsmaßnahmen, zum Beispiel dem Einsatz von Totholz zur Strömungslenkung und als Verweilplatz für Tiere wie den Eisvogel. NLWKN-Bereichsleiter Josef Schwanken bedankt sich in diesem Zusammenhang bei der Familie Kortmann des gleichnamigen Betonunternehmens, welche 20 Eichen aus dem eigenen Wald stiftete. Zudem ist die Anlage einer Flutrinne durch die Insel zwischen den beiden Vechtearmen geplant. Entlang der Sohlgleite führt darüber hinaus ein „Otterpass“, der Fischottern die Wanderung am Flussufer ermöglicht. Eine sogenannte ökologische Baubegleitung achtet während der Bauarbeiten darauf, dass keine Tierarten gefährdet werden.
Eindrucksvoller Anblick: Vom Vechtewehr ist nichts mehr zu erkennen, die Großbaustelle ist in vollem Gange.
Josef Schwanken erklärt, dass lange im Vorfeld an verschiedenen Stellen über das Projekt informiert wurde, um Akzeptanz und Transparenz zu schaffen und Ängste zu nehmen – insbesondere mit Blick auf Hochwasserereignisse. Diesen ist die Sohlgleite mehr als gewachsen, betont Schwanken. Zuvor seien dafür hydrologische Berechnungen angestellt worden.
Die Kosten von insgesamt 2,8 Millionen Euro werden zum Großteil durch EU-Mittel finanziert, der übrige Teil wird durch Gelder des Landes Niedersachsen abgedeckt. Der NLWKN-Bereichsleiter ist überzeugt, dass die neue Sohlgleite in Schüttorf neben dem ökologischen Nutzen eine deutliche optische Aufwertung des Vechteabschnitts mit sich bringt. Sie werde sich zu einem Anziehungspunkt entwickeln, wo die Menschen mit eigenen Augen betrachten können, wie ein Gewässer in natürlicher Form aussieht.
Das Ziel: Ein guter ökologischer Zustand
Hintergrund der Maßnahmen des NLWKN ist die sogenannte Europäische Wasserrahmenrichtlinie, welche ursprünglich vorschrieb, dass Gewässer in der EU bis 2015 in einem „guten ökologischen“ Zustand sein sollten. In begründeten Fällen kann diese Frist bis 2027 und gegebenenfalls darüber hinaus verlängert werden. Der ökologische Zustand bemisst sich anhand der biologischen und chemischen Qualität der Gewässer. Bei der biologischen Qualität, die im Fokus der NLWKN-Arbeiten liegt, sind wiederum verschiedene Indikatoren ausschlaggebend: Hierzu zählen die Fische und die als Makrozoobenthos bezeichneten Kleinstlebewesen, aber auch die größeren Wasserpflanzen im Fluss.
Eine entscheidende Voraussetzung zum Erreichen des guten ökologischen Zustands ist die Durchgängigkeit der Fließgewässer. Durch Wehranlagen mit Stauklappen ist diese nicht gegeben: Fische und Kleinstlebewesen können diese Barrieren nicht überwinden, wenn sie stromaufwärts gelangen möchten. Deshalb ist der NLWKN bereits vor 20 Jahren aktiv geworden, um die Situation in der Grafschaft zu verbessern: Zunächst wurde 2002 ein sogenanntes Umgehungsgerinne am Vechtewehr in Tinholt angelegt. In den Jahren 2003 bis 2009 wurden sämtliche Kulturstauanlagen, die Landwirte in früheren Zeiten zur Bewässerung ihrer Felder nutzten, zurückgebaut und durch Sohlgleiten ersetzt. Ebenso wurden die Fischaufstiegsanlagen der Vechtewehre in Brandlecht, Nordhorn (Ölmühlenwehr) und Grasdorf ertüchtigt und durch besser passierbare Borstenfischpässe ersetzt. Begleitet wurden und werden die Arbeiten durch verschiedene Renaturierungsmaßnahmen.
Die Sohlgleite Rohrbach am „Vechtefenster“ ersetzt seit 2006 eine Kulturstauanlage.
NLWKN-Geschäftsbereichsleiter Josef Schwanken betont allerdings, dass technische Fischaufstiegsanlagen und auch die längeren Umgehungsgerinne immer nur die „zweite Wahl“ seien: Eine echte Durchgängigkeit könne nur erreicht werden, wenn das gesamte Gewässer in den Blick genommen wird – so wie es eben bei den Sohlgleiten der Fall ist und derzeit in Schüttorf umgesetzt wird. Insgesamt wurden für die ökologische Aufwertung von Fließgewässern in der Grafschaft in den zurückliegenden Jahren rund sieben Millionen Euro investiert. Neben EU-Fördergeldern erfolgt die Finanzierung durch Landesmittel aus der niedersächsischen Förderrichtlinie zur Fließgewässerentwicklung.
@Copyright liegt bei den Grafschafter Nachrichten | 11. September 2021, Seite 33